Kinderarmut in Luxemburg

Kinder in REVIS[1]-Haushalten – „Kéng Chance vun Ufank un?“

Die Frage impliziert, dass Kinder, die in REVIS-Haushalten leben, keine Chancen haben – wofür? Was bedeutet es? Keine Chance, der Armut zu entrinnen, stets und ständig. Weil der gesamte Lebensweg von Beginn an so viel schwerer ist, so viel Kraft kostet, dass Schule, Berufsausbildung, Wohnen, Leben, … ständiger Kampf bedeuten. Es sind nicht nur die fehlenden finanziellen Mittel für den alltäglichen Bedarf, wo ein Paar neue Schuhe oder die Reparatur der Waschmaschine große Sorgen auslösen. Aus vielen einzelnen Defiziten und „Nicht-Möglichkeiten“ resultiert auch eine soziale Herabstufung und Isolation. Das alles bedeutet immer wieder permanenter Stress, Scham, Stigma, Angst, Hilflosigkeit – ein Leben lang, bis hin zu Morbidität und früherem Tod. Das trifft nicht nur diese Menschen, es hat auch Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft – in finanzieller Hinsicht und in Bezug auf den sozialen Zusammenhalt.

Kinder sind arm, weil ihre Eltern/Erziehungsberechtigten arm sind.[2]

Armut und Ausgrenzung/Exklusion hängen zusammen: „Armut bezeichnet primär einen Mangel an Ressourcen; Ausgrenzung bezeichnet primär die Marginalisierung von einer Person, einer Familie, einer Gruppe wegen zu großer Entfernung mit dem dominanten Lebensstil in der Gesellschaft“ (Europäischer Rat 1984). Seit 2010, dem 1. Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, sind Begriffe wie Armutsbekämpfung einerseits und Förderung der sozialen Kohäsion andererseits in aller Munde. Noch nie wurde auch in Luxemburg mehr Geld in die Sozialpolitik investiert als heute[3] und trotzdem steigt das Armutsrisiko immer höher und geht die Schere zwischen Arm und Reich immer mehr auseinander.

2023 fielen in Luxemburg 19% der Menschen unter das Armutsrisiko. Besonders betroffen von Armut sind Kinder (fast 25%), Alleinerziehende (26%) und Jugendliche (fast 30%).[4]

Vieler dieser Menschen sind im REVIS-Bezug. Dabei gehörte dieses Sozialhilfegesetz, als es 1986 noch als RMG-Gesetz in Kraft trat, zu den fortschrittlichsten in ganz Europa.[5]

Leider bleibt es eine hinreichend bewiesene Tatsache, dass REVIS oft arm macht und Armut verfestigt[6], auf Generationen. Weil die Menschen oft nicht in der Lage sind, oder in die Lage versetzt werden, genug zu verdienen, um den eigenen Lebensunterhalt zu sichern. Und weil für sie und ihre Kinder, verursacht durch den REVIS-Bezug – also durch den Staat – der Schuldenberg täglich wächst: Geld kann zurückgefordert werden, und es werden Hypotheken auf Wohneigentum gesetzt. Hier wird die Sozialhilfe zur Armutsfalle[7], nicht nur für die Erwachsenen.

2023 waren von 24707 REVIS-Beziehern 8394 unter 18 Jahre und 2012 zwischen 18-24 Jahre. Macht insgesamt ca. 42% Kinder und Jugendliche, die in REVIS-Haushalten leben.[8]

Was bedeutet dies konkret für die Kinder und Jugendlichen (und die Erwachsenen im Haushalt)?

Wie wird ihnen im Rahmen des REVIS geholfen – nicht geholfen? Welche Auswirkungen hat es auf sie direkt und auf ihr späteres Leben?

Beschäftigungsmaßnahmen zur beruflichen Integration kennen inzwischen alle. Diese sind für die 25 – 65 jährigen Arbeitsfähigen. Aber was wird im Rahmen des REVIS getan, um allen Betroffenen zu helfen? Welche Maßnahmen werden ergriffen?

Drei staatliche Akteure sind hier involviert: FNS/Solidaritätsfonds, ONIS/nationales Amt für soziale Eingliederung und ADEM/Arbeitsagentur. Maßnahmen und Hilfestellungen nichtmonetärer Art bieten ONIS und ADEM. Allerdings nur im Bereich der Vorbereitung, Aktivierung und Eingliederung auf den Arbeitsmarkt.

Dazu gehören auch die sog. „Maßnahmen zur Stabilisation und Vorbereitung“ des ONIS, die zurzeit hauptsächlich aus Sprachkursen bestehen oder berufsbezogene Themen haben.

62% der Personen im Kompetenzbereich des ONIS konnten 2023 nicht oder nur teilweise an den Maßnahmen teilnehmen und wurden dispensiert („befreit“). Wie im Jahresbericht festgestellt wird, stellt die Anwesenheit von Kindern im Haushalt häufig ein erhebliches Hindernis für die Teilnahme an Aktivierungsmaßnahmen dar. Bei 1605 Personen (27% der Leistungsempfänger im Zuständigkeitsbereich des ONIS) stellten die Sozialarbeiter dieses Hindernis fest, wobei die Mehrheit (87%) Frauen waren. Von diesen Personen waren 825 auf der Suche nach einem Kinder-Betreuungsplatz. Leider gibt es zurzeit – im Gegensatz zu RMG-Zeiten – keine spezifischen Angebote für die anderen Zielgruppen im Kompetenzbereich des ONIS, z.B. für Familien mit Kindern, Alleinerziehende oder die 18 – 24 Jährigen.

Was bedeuten diese Dispensen nun für die Erwachsenen und deren Kinder?

Die Nichtteilnahme an Maßnahmen verschlechtert nicht nur die persönlichen und fachlichen Kompetenzen.

Sie führt auch dazu, dass der Schuldenberg durch den REVIS täglich steigt. Große Leidtragende sind Kinder, wenn aufgrund fehlender Betreuungsplätze Dispensen ausgesprochen werden. Besonders bei Alleinerziehenden im Sozialhilfebezug gibt es viele, deren einziges „Problem“ die fehlende Kinderbetreuung ist. Sie könnten arbeiten und unabhängig vom REVIS sein, wären ihre Kinder betreut. Für die sozio-kulturell Benachteiligten, wirkt sich der fehlende Maison Relais-Platz noch negativer aus, weil diese Kinder keine Chance erhalten, sich in den qualitativ exzellenten öffentlichen Einrichtungen entwickeln zu können, um damit ihre schulische Laufbahn zu verbessern, dem REVIS zu entrinnen und als qualifizierte Fachkraft in der Arbeitswelt ihren Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung leisten zu können. Neben den Dispensen wirken sich alle Sanktionen, Rückforderungen und Hypotheken auch immer negativ auf die im Haushalt lebenden Kinder aus.

Wenn Erwachsene sanktioniert werden, weil sie z.B. einen Termin nicht eingehalten haben oder wenn weniger Geld ausbezahlt wird, weil Alimente eingerechnet werden oder Hypotheken auf Wohneigentum gesetzt werden, trifft das sofort mit aller Härte die Kinder. Pro Jahr werden ca. 1442 Sanktionen verhängt. 2023 gab es 452 neue Hypotheken, bei insgesamt 2102 Hypotheken.

Dies sind einige Fakten und Indikatoren, die aufzeigen, warum es Kinder in REVIS-Haushalten so schwer haben, der Armut zu entkommen. Das alles ist nicht neu. Nationale Bildungsberichte und immer neue Beobachtungsstellen, wissenschaftliche Forschung und politische Aktionspläne zeigen, dass frühzeitig und ganzheitlich angesetzt werden muss, damit Kinder die Chance haben, sich zu Erwachsenen zu entwickeln, die ohne staatliche Beihilfen leben und als Bürger ihren Teil zur sozialen Kohäsion beitragen können.

Haben also REVIS-Kinder keine Chance?

Doch, es gibt Pisten für Kinder in REVIS-Haushalten. Z.B. beim REVIS-Gesetz, das in seiner „RMG-Zeit“ ein ganzes Bündel von Maßnahmen für die unterschiedlichsten Zielgruppen bereithielt. Gerade auch für Alleinerziehende und sozio-kulturell Benachteiligte. Hier kann angesetzt werden, wenn bei den (politischen) Entscheidungsträgern der Wille da ist, die Lage zu verbessern.

Einige Denkanstöße und Pisten:

– Zur Zeit bieten zwei staatliche Organisationen, ONIS und ADEM, Unterstützung und Maßnahmen für die gleiche Zielgruppe an. Dies könnte effektiver gestaltet werden, indem ONIS sich wieder auf die soziale Eingliederung konzentriert und ADEM auch die Vorbereitungs- und Aktivierungsmaßnahmen übernimmt, wie sie es für Nicht-REVIS- Bezieher macht.

– ONIS könnte die geballte Kompetenz seiner fachkundigen Assistant Social zum qualifizierten Erstgespräch nutzen, und diese einsetzen mit zielgruppenspezifischen Angeboten und ganzheitlicher „klassischer Sozialarbeit“, besonders für Alleinerziehende, Familien mit Kindern und die 18 – 24 jährigen soziokulturell Benachteiligten.

– REVIS-Haushalte mit Kindern könnten bei den öffentlichen Kinderbetreuungseinrichtungen Maison Relais/Crèche „positiv diskriminiert“, d. h. bei der Platzvergabe immer bevorzugt werden. Wenn das Einkommen zur sozialen Eingliederung nicht für alle Bezieher „umsonst“ sein kann, könnte auf alle Fälle für Haushalte mit Kindern Folgendes gelten:

– REVIS sollte bei Dispensen nicht zurückgefordert werden dürfen, wenn keine passende Maßnahme angeboten werden kann.

– REVIS-Schulden sollten nicht vererbt werden dürfen.

– Hypotheken sollten nicht auf Wohneigentum gesetzt werden, wie es seit Juli 2023 für RPGH-Bezieher gilt.

– Bei Alimenten-Forderungen sollte den alleinerziehenden Frauen von Anfang an staatliche Unterstützung geboten werden.

– Auf politischer und gesellschaftlicher Ebene könnten „Action positive“ der zuständigen Ministerien (wie bereits beim Thema Gender, Handicap, …) und Programme wie SäiteWiessel[9] gegen Scham und Ausgrenzung und für mehr Verständnis in der Gesellschaft helfen.

All dies kann maßgeblich dazu beitragen, dass Kinder in REVIS-Haushalten „Eng Chance vun Ufank un!“ bekommen.

Photo de Katie Gerrard sur Unsplash


1. REVIS = Einkommen zur sozialen Eingliederung / Revenu d’inclusion sociale; vorher RMG = Garantiertes Mindesteinkommen / Revenu minimum garanti

2. Siehe: Christoph Butterwegge im Caritas Forum 22.05.2024

3. 47% aller Staatsausgaben sind Sozialausgaben (De Budget 2023. Finances publiques)

4. STATEC-Statistiken

5. Neben der Wahrung der Anonymität und dem einklagbaren Recht, brachte der Paradigmenwechsel- weg von der reinen oft willkürlichen finanziellen Unterstützung hin zur aktiven Hilfe bei der sozialen und beruflichen Integration durch maßgeschneiderte zielgruppenspezifische Hilfen, für viele die Möglichkeit, aus der Sozialhilfe zu kommen und sich eine von Scham befreite selbstbestimmte Zukunft ohne Schulden aufzubauen.

Die Fokussierung auf Arbeit als das wichtigste Instrument zur Eingliederung für alle Zielgruppen, die sich seit der Jahrtausendwende auch vermehrt in den Maßnahmen der Sozialhilfe widerspiegelt, fand 2019 in der Reform des neuen REVIS-Gesetzes seinen bisherigen Höhepunkt: die Zuständigkeit für das Eingangsgespräch „Profiling“, liegt nicht mehr in der Hand der zuständigen Abteilung des Familienministeriums sondern wurde in die Kompetenz des Arbeitsministeriums verlagert.

6. Siehe Conseil économique et social 2007 : Reproduktion von Armut : in vielen Fällen vererbt sich Armut der Eltern auf die Kinder

7. REVIS besteht aus „allocation d’inclusion“ und „allocation d’activation“. Die zweite ist der „Lohn“ für geleistete Stunden, die erste lässt den Schuldenberg wachsen

8. Alle Statistiken kommen aus dem MIFA-Jahresbericht 2023

9. www.Seitenwechsel.ch